Regenbogenbrücke

Die Geschichte der Federn

Am 25. Mai 2009 starb mein einzigartiger und wunderbarer Freund Joe, dessen \“richtiger\“ Name Bo von Tobmarani war, im Alter von 13 Jahren 3 Monaten und 18 Tagen.

Er fehlt mir noch immer jeden Tag und obwohl ich weiß, dass er sich grämt, zu sehen, dass ich ihn so sehr vermisse, dass mir der Gedanke an ihn den Kloß in den Hals und die Tränen in die Augen treibt, fällt es mir schwer ihn loszulassen … Dabei gönne ich ihm doch, dass er nach Hause reiste, um sich auszuruhen und im neuen Kleid wieder zurück zu kommen.

Jeder Gedanke an ihn, den ein Lächeln begleitet, schenkt ihm eine Feder für seine Flügel, damit er fliegen kann zum Himmlischen und jeder Gedanke, den eine Träne begleitet, nimmt ihm eine Feder und zwingt ihn bei mir zu bleiben …\“

So habe ich nach einem halben Jahr, an dem es nicht einen Tag gab, an dem ich nicht hadern musste, wenn mir bewusst wurde, dass ich ihm wieder eine Feder nahm und seine Flügel somit schwächte, ein sehr, sehr langes Gespräch mit ihm geführt und ihn gefragt, ob er denn einverstanden wäre, wenn ich ein Stückchen meines Herzen frei machen würde, um es einem Hund zu schenken, der mir neue Freude ins Haus bringt … Nicht um Joe zu vergessen – denn wenn man einen Freund hatte, der einem nur gute Tage schenkte und nur gute Erinnerungen zurücklässt, dann ist er niemals zu ersetzten und nie aus den Gedanken zu löschen – aber um der Erinnerung den Schmerz zu nehmen, der dem Verlassenen bleibt und den Reisenden am Gehen hindert.

Ich weiß, dass mein Hundejunge mit der Löwenmähne und dem Hasenherz mir nun ein Fellherz ausgesucht hat. Denn dort, wo er nun auf mich wartet, traf er einen anderen Hundejungen, einen Leonberger, dessen Name Don Camillo ist und der seine Menschenfamilie viel zu früh verlassen musste.

… und so geschah es, dass er am 21. November 2009, nämlich genau an dem Tag, an dem Don Camillo seinen fünften Geburtstag in der Erdenwelt hätte feiern dürfen, wäre seine Lebenssonne nicht lang schon vor seinem Lebensabend untergegangen und wäre sein Licht nicht erloschen im Hier und Jetzt, meinen Freund Joe in der Anderswelt traf, weil es Zeit geworden war, dass nun Joe sich verabschiedet von der Erdenwelt und von mir und ich ihn nicht immer wieder zurückrufe, kaum dass er seinen Platz beim Himmlischen einzunehmen bereit war.

Don Camillo hatte gerade mit einem Seufzer das Blatt des himmlischen Kalenders betrachtet, auf dem geschrieben stand, dass der 21. November auf der Erdenwelt angebrochen war, denn er hätte diesen Tag gerne inmitten seiner Menschenfamilie gefeiert, als er Joe sah, der nach ihm die Reise über die Regenbogenbrücke angetreten hatte und den er bislang nur immer von Ferne betrachten konnte. Heute jedoch fühlte er sich zu ihm hingezogen … ja fast schien es ihm, als schöbe ihn eine große Hand liebevoll in die Richtung des Langhaarschäferhundes mit der grauen Schnauze und den traurigen Augen.

\“Ich kenne Dich noch nicht\“, sprach Don Camillo, als er vor Joe stand, \“aber mir scheint, als würde uns das Band der Trauer heute verbinden, denn eigentlich hätte ich heute meinen fünften Geburtstag gefeiert, wäre ich nicht vorzeitig vom Himmlischen abberufen worden, als ich gerade mal etwas älter als vier Erdenjahre alt geworden war … bist Du auch so jung gewesen, als Du … Du weißt schon … gestorben bist?\“

Joe blickte den freundlichen Leonbergerjungen müde an und antwortete: \“Nein, meine Zeit war gekommen und es war gut so, denn ich war alt und mein Körper war schwach und die Gelenke taten mir weh, egal ob ich lag oder aufzustehen versuchte … nein es war nicht zu früh, sondern ich fühlte mich erlöst, als ich zu meiner Reise über die Regenbogenbrücke aufbrechen durfte …\“

\“Warum bist Du dann aber traurig, wenn Du doch Deine Schmerzen im Erdensein lassen durftest und nun frei sein darfst?\“, fragte Don Camillo erstaunt und Joe antwortete: \“Weil mir der Abschied trotzdem so schwer fällt, denn meine Menschenfreundin grämt sich so sehr ohne mich und ich fühle mich schuldig, weil ich sie alleine ließ.\“

Don Camillo nickte verstehend und sprach: \“Ich weiß wie Du Dich fühlst, denn auch ich vermisse meine Menschen, die ich zurücklassen musste, als ich aufbrach, die Regenbogenbrücke zu überwinden. Aber ich erfreue mich auch ihrer guten Gedanken an mich, denn schau, ich trage herrliche Flügel und jedes Mal, wenn sie sich lächelnd an mich erinnern, schenken sie mir eine neue Feder dafür … bald schon werden es so viele Federn in meinen Flügeln sein, dass ich werde fliegen können!\“

Don Camillo hatte sich, während er sprach, umgedreht, damit er Joe die prächtigen Flügel zeigen konnte. Und nun, da er sich dem Schäferhund wieder zuwandte, sah er, dass Joe so spärliche und dürftige Flügel hatte, die die Bezeichnung eigentlich gar nicht verdienten und dass er sich schämte, weil er damit nicht würde fliegen können.

Einen Moment herrschte betretenes Schweigen zwischen den beiden Hunden und dann räusperte Joe sich und fragte: \“Wie hast Du es denn geschafft, solche prächtige Flügel zu bekommen? Auch meine Menschenfreundin denkt doch lächelnd an mich und trotzdem habe ich kaum Federn, die geeignet wären, mich im Flug zu tragen\“

Don Camillo lächelte und antwortete: \“Meine Menschen haben sie mir verliehen … mit jedem Gedanken, den ein Lächeln begleitet … aber mit jedem Gedanken, der von einer Träne begleitet wird, verlierst Du eine Feder, denn die Tränen der Lebenden halten die Toten fest, weil sie ihnen keine Flügel geben, damit sie nicht wegfliegen und sie endgültig verlassen.\“

Joe dachte nach und entgegnete Don Camillo: \“Trauern denn Deine Menschen gar nicht um Dich? Vergießen sie denn gar keine Tränen mehr, wenn sie an Dich denken?\“

\“Doch\“, antwortete Don Camillo. \“Manchmal weinen sie auch, wenn sie an mich denken, doch seit der kleine Akilou bei ihnen einzog, gibt es auch viel Grund zur Freude in ihrem Haus und so können sie nun immer öfter lächelnd die Erinnerung an mich finden.\“

\“Bist Du gar nicht in Sorge, dass sie Dich irgendwann vergessen werden, wenn Du ihnen erlaubst, das Herz, das sie Dir einst schenkten, nun einem anderen Hund zu vererben?\“ fragte Joe vorsichtig und etwas erstaunt. Aber Don Camillo schüttelte seinen mächtigen Kopf und sagte: \“Nein, sie werden mich nicht vergessen, denn in ihrer Erinnerung werden sie die Liebe, die sie mir mit ihrem Herz schenkten, ewig machen … schau Joe, die Erde gehört den Lebenden, der Himmel aber und die Erinnerung der Lebenden gehört denen, die die Erde verließen und in ihrer liebevollen Erinnerung an uns, werden wir unsterblich … Keiner kann Dir je den Platz streitig machen, den Du verlassen hast, als Du hierher umgezogen bist, weil Du in der Erinnerung lebst … Aber wenn Du es Deiner Menschenfreundin erlaubst, dass sie den Erdenplatz und das noch freie Stückchen ihres Herzens einem anderen Hund schenkt, wird sie Dir im Austausch dafür Federn schenken, die sich aus jedem Gedanken formen, den sie lächelnd mit Dir verbindet.\“

Joe nickte und als er seinen Kopf den spärlichen Flügeln zuwandte, sprach er: \“Es wird Zeit, dass ich sie nutze, um zu fliegen und sie viele neue Federn bekommen … ich … ja ich bin bereit. Möge nun also die Freude auch in das Haus meiner Menschenfreundin mit einem Hund einziehen, der meinen Platz in der Erdenwelt mit Leben füllt. Denn auch wenn er aus meinem Napf essen und in meinem Haus leben wird, meinen Garten durchwandert und meine Katzen auf die Bäume jagt, so gehört ihm doch nur der Erdenplatz und nicht die Erinnerung meiner Menschenfreundin und den Platz in ihrem Herzen, den sie mir zur Aufbewahrung gab, den werde ich nun frei geben, auf dass ein anderer dort einziehen darf.\“

Don Camillo dachte sich zwar so seinen Teil dazu, denn er wusste, dass die liebevolle Erinnerung vielen Seelen Raum bot und auch der Hundejüngling, der nun ausersehen war, Joes Erdenplatz zu erhalten, eines fernen Tages mit ihm den Platz in der Erinnerung teilen würde, aber er wollte Joe nun nicht gleich wieder enttäuschen, sondern ihm Mut und Hoffnung geben. Er wusste auch, dass er, Don Camillo, heute an seinem fünften Erdengeburtstag dazu ausersehen worden war, eine Mission zu erfüllen und so nutzte er die Gunst der Stunde und Joes aufgehellte Stimmung, um seine Bitte zu formulieren, die ihm seine Menschenfreundin mit all den guten Gedanken geschickt hatte, die sie mit seinem Erdengeburtstag verband.

\“Joe\“, begann er darum das Gespräch, \“ würdest Du mir zu meinem fünften Erdengeburtstag einen Wunsch erfüllen?\“

Joe nickte und sagte: \“Was immer Du möchtest … welcher Wunsch wäre es denn, den ich Dir zu Deinem Ehrentag erfüllen dürfte?\“

Don Camillo wusste nun für einen Moment nicht so genau, wo er anfangen sollte. Aber dann sprach er: \“Du bist ein Langhaarschäferhund und einzigartig für Deine Menschenfreundin … Wenn ich Dich nun bitte, dass Du Deinen Segen dazu gibst, dass ein neuer Hund Deinen Erdenplatz mit Leben füllen darf, dann wäre es ganz sicher besser, wenn es keiner Deiner Rasse wäre, denn der hätte keine Chance, sich Deiner Menschenfreundin zu beweisen, nachdem sie weiß, dass sie mit Dir den besten und idealsten Langhaarschäferhundjungen hatte. Aber wenn es einer wäre, der auf seine Art auf dem Weg ist, der beste und idealste seiner Rasse für sie zu werden, wärest Du dann einverstanden, dass Du ihr zuflüsterst, wo sie ihn finden kann?\“

Joe sah Don Camillo nun wieder etwas zweifelnd an, denn eigentlich fand er schon, dass wenn überhaupt nur ein Langhaarschäferhund seinen Erdenplatz würde einnehmen könne. Aber nachdem er ein paar Minuten nachgedacht hatte, schienen ihm Don Camillos Argumente schon klug und sehr überlegt und so fragte er: \“ … und, welche Rasse würdest Du denn vorschlagen?\“ woraufhin Don Camillo antwortete: \“Ach Joe, ich würde mir – speziell heute zu meinem Erdengeburtstag wünschen, dass alle Menschen, die sich einen Leo wie mich wünschen, ihn finden dürften.\“

Noch einmal dachte Joe nach, bevor er antwortete: \“ Du hast recht. Meine Menschenfreundin wünschte sich schon immer, seit sie in ihrer Kindheit die wunderbaren Leonberger ihrer Tante während der Schulferien besuchen durfte und ihre gelassene Art und den freundlichen Charakter zu lieben lernte, genau so einen Hund … Nicht dass sie mich nicht so annahm, wie ich nun mal als Schäferhund bin … oder war. Aber dass sie mich wählte, das lag schon daran, dass ich sie mit meiner Löwenmähne, meiner beachtlichen Größe, dem bärigen Aussehen und meiner dunklen Maske an einen Leonberger erinnerte. Sie war der Rasse der Langhaarschäferhunde zwar treu, zumindest so lange wie ich bei ihr lebte, denn als meine Hundefreundin Lieschen starb, schenkte sie mir eine neue Gefährtin, die natürlich auch meiner Rasse angehört … aber wenn der Leonberger vielleicht trotzdem die Erinnerung an mich nicht verblassen lässt, weil er mir ein wenig ähnlich ist …\“

Joe wirkte nun fast ein wenig peinlich berührt, ob seiner Sorge, dass ihm, den seine Menschenfreundin den Einzigartigen nannte, nun bedenklich schien, dass ein anderer nicht nur seinen Erdenplatz, sondern auch den ihm von ihr verliehenen Titel tragen könnte. Darum schüttelte er sich rasch und damit alle Bedenken von sich und sprach zu Don Camillo: \“Es ist ein Leonberger Hundejunge ausgesucht – es soll ein Leonberger Hundejunge sein … an mir wird es nicht scheitern und wenn Du Don Camillo Dir heute von mir zum Geburtstag wünschst, dass ich mein Einverständnis gebe, dann bekommst Du es … Möge mein Segen nicht nur Dich glücklich machen, sondern auch meine Menschenfreundin … auch wenn ich sie doch noch sehr vermisse und es mir schwer fällt, nun Abschied zu nehmen.\“

In Joes Augen stand in diesem Moment wieder diese Traurigkeit und auch Don Camillo blickte nun sehnsuchtsvoll zur Regenbogenbrücke … dann wandte er sein kluges Gesicht dem traurigen Schäferhund zu und sprach: \“Ich vermisse meine Menschenfreundin auch sehr … gerade heute, wäre ich ihr gerne nah, aber … Joe, wenn Du bereit bist loszulassen, dann wird Deine Menschenfreundin heute meine Menschenfreundin finden und mein Wunsch, dass ein Leo-Junge seine Chance nutzen darf, wird sich erfüllen. Du wirst von dem Tag an, an dem der Hundejüngling bei ihr einzieht vielleicht oft ein wenig sorgenvoll zuschauen, wenn sie ihn herzt und kuschelt, so wie sie das bei Dir tat, aber sie wird freudvoll an Dich denken dabei, wenn Du ihr nicht das Gefühl gibst, dass sie ein schlechtes Gewissen Dir gegenüber haben muss. Und dann werden viele Gedanken, alle begleitet von ihrem Lächeln, sich zu Federn formen und Du wirst Deine Flügel ausbreiten dürfen und fliegen.\“

… und so nickte Joe seufzend und gab seinen Segen. Don Camillo schien mit einem Mal in ein goldenes Licht getaucht, denn er hatte seinen Auftrag nun erfüllt und sich die letzte Feder mit seiner Mission verdient, die ihm zum freien Flug gefehlt hatte.\“

Weit breitete Don Camillo seine prächtigen Flügel aus und es schien, als wäre er von Millionen kleiner glänzender Sterne umgeben, als er heim flog, in das Paradies Gottes.

Da wusste Joe, dass er ihm schon bald würde folgen dürfen. Und während seine Menschenfreundin einen Text tippte, mit dem sie bekannt gab, dass sie einen Leo-Rüden bereit war, in ihr Herz zu lassen, spürte er, wie viele Federn seine Flügel füllten, die sie ihm lächelnd formte …

Eure Sabine Bröckel – Kräuterbine

Copyright © 2014 Sabine Bröckel

Auszug aus:

387 Seiten / € 3.-

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